Busse und Bahnen kostenlos - Nulltarif für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Potsdam

„Dem öffentlichen Personennahverkehr soll vor allem in Verdichtungsräumen bei Ausbau und Finanzierung Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr eingeräumt werden."

Gesetz über den öffentlichen Personennahverkehr im Land Brandenburg (ÖPNV-Gesetz), § 2 Ziele und Grundsätze, Absatz 4

Autoverkehr als Problem
Kaum etwas beeinträchtigt das Leben in Potsdam so stark wie der Autoverkehr. Verkehrsströme verändern Rhythmus und Tempo der Stadt, drängen Menschen an den Rand des öffentlichen Raums und beeinträchtigen die Bevölkerung durch Abgase und Lärm. In der Autogesellschaft heißen Alleen „Straßenbegleitgrün". Mehr als 50 % der Potsdamer Bürgerinitiativen wird wegen Verkehrsproblemen gegründet. Die Stadt Potsdam reagiert auf die Verkehrsprobleme mit dem Ausbau von Straßen und stellt zur Linderung der Folgen des dadurch steigenden Verkehrsaufkommens Lärmminderungs- und Luftreinhaltepläne auf.

Die Andere strebt hingegen einen offensiven und modernen ökologischen Umbau der Stadt Potsdam an. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels und des anhaltenden Wachstums der Stadt ist dies eine der größten Herausforderungen für eine Kommune im 21. Jahrhundert. In erster Linie muss die Stadtentwicklung und Verkehrspolitik auf die Vermeidung von Verkehr setzen.

Wir sehen in der Verlagerung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) hin zum Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eine Antwort auf die Fragen, denen sich eine Stadt wie Potsdam in den nächsten Jahrzehnten stellen muss.

Auf die Verknappung fossiler Brennstoffe (Ölpreissteigerung) müssen Antworten gefunden werden, die durch Verringerung des CO2-Ausstoßes zum Klimaschutz beitragen, die Feinstaub-, Stau- und Lärmbelastung für die Bevölkerung verringern und die urbane Attraktivität Potsdams bei steigender Einwohnerzahl sichern. Die Grundmobilität aller sozialen Gruppen und die Daseinsvorsorge durch die städtischen Betriebe müssen gewährleistet werden.

Für die Verlagerung des MIV zum ÖPNV gibt es im Wesentlichen nur zwei Möglichkeiten der kommunalen Einflussnahme: Zunächst gibt es die Möglichkeit des negativen Anreizes, man kann den MIV unattraktiver gestalten. Die Stadt kann auf höhere Gebühren für Parken oder auf mehr Bußgelder durch noch mehr Einschränkungen setzen. Auf ähnliche Weise wirkt bundesweit die Steigerung der Betriebskosten (Kraftstoffpreise) und der Kfz-Steuer sowie die Streichung der Pendlerpauschale. So konnte der städtische Verkehrsbetrieb ViP das Fahrgastaufkommen von 21 Millionen im Jahr 2005 auf 28 Millionen Fahrgäste im Jahr 2007 steigern.

Diese Möglichkeiten der Einflussnahme liegen zum Großteil nicht in der Verantwortung der Stadt. Außerdem werden durch negative Anreize vor allem Einkommensschwache getroffen. Ein nur durch Preissteigerungen erzwungener Umstieg vom Auto zum ÖPNV beeinträchtigt die Mobilität breiter Bevölkerungsschichten.

Intelligenter scheint uns der Weg der direkten Förderung des ÖPNV zu sein. Ein attraktiver öffentlicher Personennahverkehr sichert die Mobilität aller Bevölkerungsgruppen und setzt einen positiven Anreiz zum Umstieg auf ökologische Verkehrsmittel.

Wie kann der ÖPNV aber attraktiver gemacht werden?
Zum einen könnte das Angebot qualitativ oder vom Umfang verbessert werden. Bei gleichen Fahrkosten müsste der ViP (Verkehrsbetrieb in Potsdam) in neue Strecken, in bessere Takte, in längere Betriebszeiten, in einen größeren und moderneren Fuhrpark und mehr und qualifiziertes Personal investieren. Dies ist zum Teil schon umgesetzt worden. Die Verschiebungen zu einer vermehrten Nutzung des ÖPNV scheinen allerdings mit dieser Strategie an ihre Grenzen zu stoßen. Um den MIV in einem wesentlichen Maße zu reduzieren, bedarf es weiterer Anstrengungen. Doch wie könnten diese aussehen?

Wie wollen wir den MIV wesentlich reduzieren?
Eine viel versprechende Möglichkeit, um einen Anreiz zum Wechsel zu schaffen, ist die Senkung der Fahrpreise. Der Idealfall ist der Nulltarif: die kostenlose und fahrscheinfreie Benutzung von Bussen und Bahnen des ÖPNV. Beispiele aus anderen Städten (Templin, Hasselt) belegen, dass ein kostenloser ÖPNV von der Bevölkerung angenommen wird und zu deutlich höheren Fahrgastzahlen führt.

Ist ein solch positiver Anreiz finanzierbar?
Mit diesem Text, den Sie auch als Broschüre bei uns bekommen können, stellen wir, die Wählergruppe Die Andere, unsere Ideen für einen kostenlosen ÖPNV in Potsdam zur Diskussion. Im Folgenden werden wir dazu den zu erwartenden Nutzen eines kostenlosen ÖPNV und die dabei entstehenden Kosten für die Stadt Potsdam abschätzen. Wir legen dar, welche Voraussetzungen dafür auf Landes- und Bundesebene geschaffen werden müssen und diskutieren, mit welchen Schritten wir den Weg zum Nulltarif beschreiten.


Der Nutzen des Nulltarifes

Wir möchten zunächst alle entstehenden Kosten und Nutzen der Einführung des kostenlosen ÖPNV zusammentragen. Eine Unterscheidung, wem diese Kosten und Nutzen jeweils entstehen, wird an dieser Stelle noch nicht vorgenommen. Der Nutzen ist ein so genannter volkswirtschaftlicher Nutzen. Er umfasst Nutzen für einzelne Bürger/-innen, aber auch Nutzen für Krankenkassen oder Grundstücksbesitzer, für die Stadtkasse oder für den ViP.

Zunächst liegt es in der Natur der Sache, dass die Nutzer/-innen des ÖPNV die Fahrkosten sparen. Laut Geschäftsbericht der ViP aus dem Jahre 2006 werden 13,4 Mio.  Euro aus Fahrgeldern und Erstattungen erzielt. Diese Einnahmen dürften sich laut Angaben der ViP in den Jahren 2007/2008 wesentlich erhöhen, da eine Erhöhung der Fahrgastzahlen stattgefunden hat. Unter Erstattungen sind Zuschüsse des Landes Brandenburg zum Schülerverkehr und zur Beförderung Schwerbehinderter gemeint. Da sich womöglich Erhöhungen der Fahrgastzahlen und sinkende Erstattungen des Landes kompensieren, rechnen wir in unserer Nutzenrechnung weiterhin mit einem Nutzen von 13,4 Mio. Euro.

Direkter Nutzen
Im Folgenden wollen wir abschätzen, welcher Nutzen bei einer Verlagerung des Verkehrs vom motorisierten Individualverkehr (MIV) zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) entsteht. Dafür benötigen wir zunächst die Gesamtzahl der in Potsdam von Autos gefahrenen Wegstrecken (Fahrzeugkilometer). Nach Angaben der Stadt Potsdam werden werktäglich 325 000 Fahrten mit einer durchschnittlichen Weglänge von 12,9 Kilometer durchgeführt. Die Weglänge ist zur Abschätzung des Nutzens problematisch, da sie auch Fahrzeugkilometer außerhalb des Stadtgebietes berücksichtigt. Wer z. B. von Werder nach Potsdam fährt, wird vielleicht mit 15 km Weglänge angesetzt, obwohl er lediglich 5 km auf Potsdamer Stadtgebiet fährt. Wir orientieren uns daher nur an der durchschnittlichen Weglänge des innerstädtischen „Binnenverkehrs" von 6,8 km. Es ergibt sich für Potsdam eine werktägliche Fahrzeugkilometerzahl von:

325 000 Fahrten × 6,8 km Länge = 2 210 000 km

Bei Berücksichtigung einer 75 %igen Verkehrslast an Wochenenden und Feiertagen schätzen wir die Zahl der im Gesamtjahr gefahrenen Kilometer auf:

(250 Werktage + (115 Tage x 0,75)) × 2 210 000 km = 743 112 500 km

Eine weitere wichtige Frage zur Abschätzung des Nutzens ist die Veränderung des Anteils zwischen ÖPNV und MIV bei Einführung des Nulltarifes: Um wie viel Prozent verlagert sich der Verkehr vom MIV hin zum ÖPNV? Um hier möglichst auf der „sicheren Seite" unserer Nutzenrechnung zu sein, gehen wir von der konservativsten Annahme aus, die wir in der Fachliteratur gefunden haben, das ist die Annahme einer 13 %igen Verlagerung. Dieser Wert wird sich sicherlich nicht sofort nach Einführung des Nulltarifes einstellen. Anderseits könnte die Verlagerung durch einen hohen Ölpreis deutlich stärker ausfallen. Das Ausmaß der Verlagerung bleibt ein weites Feld für Verkehrswissenschaftler und Modellrechnungen, denen wir hier nicht vorgreifen können.
Wir gehen von den besagten 13 % aus und kommen damit auf eine Verringerung des MIV um:

743 112 500 km × 0,13 = 96.604.625 km

Um fast 100 Millionen Fahrkilometer wird das Potsdamer Straßennetz pro Jahr entlastet. Welch eine Zahl! Nur - was ist sie wert? In Verkehrsrechnungen werden folgende Modellierungen, sprich Preiszuordnungen verwendet:

  • Die Betriebskosten werden mit 0,25 Euro pro Fahrkilometer angegeben. Hierbei handelt es sich z.B. um die Kraftstoffkosten, Kfz-Steuer oder Fahrzeugabschreibungen. In der Summe errechnet sich aus den weniger gefahrenen Kilometern ein Nutzen von 24,15 Mio. Euro für die Bürger. Fairerweise sollte man nicht unerwähnt lassen, dass „Vater Staat" nicht unerheblich an den Betriebskosten partizipiert: Wird weniger gefahren, dann nimmt er weniger Steuern ein.
  • Der vermiedene Schaden durch Immission von CO2 und anderen Schadstoffen werden mit 0,0676 Euro pro Fahrzeugkilometer veranschlagt. Dieser Posten beläuft sich auf 6,53 Mio. Euro. Nebenbei sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich nicht unerhebliche Synergien und Wechselwirkungen zum Luftreinhalte- und Aktionsplan sowie zum Lärmminderungsplan der Stadt Potsdam ergeben würden.
  • Vermiedene Unfallfolgen des MIV und des Straßengüterverkehrs (Todesfälle, Schwer- und Leichtverletzte, Sachschäden) werden mit 0,1102 Euro pro Fahrzeugkilometer kalkuliert. Daraus ergibt sich ein weiterer Nutzen von 10,65 Mio. Euro.
  • Einsparungen bei den Vertriebskosten der Verkehrsunternehmen. Der Posten beinhaltet eine Vielzahl von Einzelkomponenten wie z.B. Fahrgeldmanagement, Buchführung, Vertriebspersonalkosten, Marketing und Kundenbetreuung. Einige dieser Posten können durch die Einführung des Nulltarifs völlig abgeschafft werden (z.B. Fahrscheinautomaten, Kontrolleure). Aber es sind auch Posten enthalten, die weiter anfallen. Hier sind wir aufgrund der zunehmenden Intransparenz unserer Kommunalunternehmen auf eine Schätzung angewiesen. Wieder gehen wir sehr konservativ heran und schätzen unter Bezugnahme vorliegender Daten vergleichbarer Städte die Vertriebskosten auf 3,0 Mio. Euro pro Jahr.
  • Reisezeitveränderung des MIV und des ÖPNV. Durch die Einführung des Nulltarifes kommt es zu einem Anstieg der durchschnittlichen Geschwindigkeit für beide Formen des Nahverkehrs auf unserem Straßennetz. Welchen genauen monetären Gegenwert diese Reisezeitverkürzung für die Bürgerinnen darstellen, muss noch berechnet werden. Klar ist, dass auch der verbleibende Autoverkehr sowie der Radverkehr davon profitieren, dass die Straßen leerer werden.
  • Durch Einführung des Nulltarifes und der damit einhergehenden „Entlastung" des Stadtverkehrs kann ein dritter Havelübergang (ISES, Havelspange) vermieden werden. Die dafür nötige Investition in Höhe von mindestens 30 Mio. Euro schreiben wir über zehn Jahre ab und schreiben damit 3,0 Mio. Euro pro Jahr unserem Projekt Nulltarif gut.

Indirekter Nutzen
Für Drittnutzer ergibt sich ein indirekter Nutzen, der sich wohl in unserer Abschätzung am schwierigsten beziffern lässt. Es ist durchaus möglich, dass gerade dieser indirekte Nutzen den Hauptanteil am Gesamtnutzen ausmacht. Wir möchten hier nur vier wesentliche Gruppen der indirekten Nutzer erwähnen:

  • Arbeitgeberinnen: Sie profitieren durch geringere Kosten z.B. für Parkplätze sowie durch eine bessere Erschließung des städtischen Arbeitsmarktes
  • Handel: Umsatzsteigerung durch bessere ÖPNV-Anbindung und Erhöhung der Parkplatzkapazität
  • Haus- und Grundstückseigentümer: Vorteile durch geringere Verkehrsbelastung und durch bessere ÖPNV-Anbindung (Wenn z.B. Hasso Plattner, der gerade 20 Mio. Euro für das Stadtschloss gespendet hat, einen Campus am Jungfernsee bauen will und wenn aus öffentlichen Mitteln ca. 20 Mio. für die Anbindung an das städtische Tramnetz investiert werden, können die Wohnungen am Jungfernsee besser vermietet werden.)
  • Imagegewinn der Kommune: Allein wegen der wegfallenden Fahrgelder für die Touristinnen in der Stadt und wegen der demografischen Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Weiterhin wird der Bildungsstandort durch Verbilligung des Semestertickets und durch kostenlosen Schülerverkehr gestärkt.

Zusammenfassend möchten wir den indirekten Nutzen auf symbolische 1 Mio. Euro beziffern.

Der Vollständigkeit halber möchten wir auf weitere die Bilanz verbessernde, nicht quantifizierte Gesichtspunkte hinweisen:

  • keine kommunalen Kosten für das „Sozialticket"
  • Erhöhung der Werbeeinnahmen durch steigende Nutzerzahlen
  • geringere Kosten für die Instandhaltung und Reparatur von Straßen und Gebäuden

Aber auch auf die Bilanz verschlechternde Gesichtspunkte:

  • geringere Einnahmen aus Parkraumbewirtschaftung
  • Verringerung der Anzahl von Arbeitsplätzen im Kfz-Handwerk


Überblick des Nutzens

Bleibt ein abschließender Überblick des zu erwartenden Nutzens der Einführung eines Nulltarifes:

Unter der Prämisse, dass nach Einführung des Nulltarifs der motorisierte Individualverkehr um 13 % abnimmt, entsteht also ein Nutzen von rund 62 Mio. Euro pro Jahr.
Modal Split

Werfen wir einen Blick auf die Verteilung des Verkehrsaufkommens nach Verkehrsträgern, auf den so genannten Modal Split, vor und nach der Einführung des Nulltarifes.

Wir gehen für unsere Modellierung vereinfachend davon aus, dass sich die Gruppe der Umsteiger nicht nur aus MIV-Teilnehmerinnen speist, sondern dass auch 13 % der Radfahrer und der Fußgänger zum ÖPNV wechseln. Nutznießer des Nulltarifs sind alle Verkehrsteilnehmer: Unmittelbar insbesondere durch die Verringerung des MIV und somit bessere Durchlässigkeit der Straßen, mittelbar durch bessere Luft, weniger Lärm und geringere gemeinschaftliche Kosten durch Unfälle und durch Verkehrsbaumaßnahmen.


Die Kosten des Nulltarifes

Die Stadt muss den Verkehrsbetrieben den Einnahmeausfall der Fahrgelder erstatten. Bezogen auf die Zahlen von 2006 bedeutet dies allein 13,4 Mio. Euro pro Jahr bei der ViP.

Welche Kosten bei S-Bahn, Havelbus etc. entstehen, bleibt unberücksichtigt. Wir beschränken uns auf die Potsdamer ViP GmbH und kommen zu den 13,4 Mio. Euro Fahrkostenausfall zurück. Die tatsächliche Höhe des Ausfalls kann bislang nur geschätzt werden, weil er noch durch andere Faktoren beeinflusst wird.

Für einen niedrigeren Wert spricht, dass der Anteil der Erstattungen (z.B. Landesmittel für Schülerfahrkosten) nicht quantifiziert ist. Einen erhöhenden Einfluss dagegen haben die seit 2006 deutlich gestiegenen Fahrgastzahlen und damit Fahrgelder.

Der wesentliche Faktor des erhöhten Finanzbedarfes der ViP liegt im (gewünschten) Anstieg der Fahrgastzahlen und in den damit verbundenen Ausgaben: Bei der angenommenen Veränderung des Anteiles des ÖPNV am Gesamtverkehr von jetzt ca. 20 % auf zukünftig 30 % muss mit einer Zunahme der Fahrgastzahlen um mindestens 50 % gerechnet werden. Die Erfahrungen aus anderen Nulltarif-Städten (Hasselt, Templin) zeigen, dass eine weitere mittelfristige Zunahme des ÖPNV-Anteils wahrscheinlich ist.

Um diese Steigerung bei gleich bleibender Qualität der Dienstleistungen zu bewältigen, müssen neue Linien eingerichtet und die Taktdichte erhöht werden. Das ist mit Investitionen in den Fuhrpark sowie in zusätzliches Personal verbunden. Die Mittel dafür schlagen eins-zu-eins in Kosten der Stadt um, da keine Kompensation durch Einnahmen der ViP mehr möglich ist (mit Ausnahme von Werbeeinnahmen).

Eine Abschätzung ist schwierig und bleibt genaueren Betrachtungen und Studien vorbehalten. Um einen seriösen, in der politischen Diskussion verwendbaren Wert anzugeben, beziffern wir den zukünftigen Finanzbedarf der ViP nach Einführung des Nulltarifs auf 15 bis 20 Mio. Euro pro Jahr.

Diese Summe kann die Stadt Potsdam allein derzeit kaum aufbringen. Trotzdem entsteht durch die Investition in den Nulltarif unstreitbar hoher Nutzen: Jeder investierte Euro wird mehrfach zurückbezahlt, wie die volkswirtschaftliche Abschätzung des Nutzens (über 60 Mio. Euro) gezeigt hat. Kaum eine Investition hat einen vergleichbar hohen Wirkungsgrad.

Doch bleibt die Tatsache, dass die Stadt Potsdam sich Ausgaben in dieser Höhe schlicht nicht leisten kann - entsprechen doch die Mehrkosten der Summe der Ausgaben für das Theater, für alle Museen, Volks- und Musikschule sowie für den Volkspark.

An dieser Stelle beenden in der Regel die etablierten Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung ihre Überlegungen. Doch für die Fraktion Die Andere beginnt genau hier die Herausforderung!

Der Nutzen ist unbestritten - nur nicht für die Stadt. Auch wenn eine Investition in einen dritten Havelübergang vermieden werden kann, so lässt sich der Verzicht darauf kaum positiv im Haushalt abbilden. Es ist nicht anzunehmen, dass die Stadt regelmäßige Rücklagen für den Bau der Brücke macht - die man nun einsparen könnte. Eher wird auf eine Finanzierung durch Mittel von Land, Bund und EU spekuliert und man wird hoffen, den Eigenanteil der Stadt mit Neuverschuldung erbringen zu können - so wie bei der Erschließung des Schlossgrundstückes.

Allenfalls ist an einen zweckgebundenen Beitrag der Drittnutznießer (Industrie, Handwerk, Grundstückseigentümer etc.) durch eine moderate und zweckgebundene Erhöhung des Gewerbesteuer- bzw. Grundsteuersatzes zu denken. Angesichts der ohnehin schon steigenden Mieten in Potsdam ist diese Möglichkeit aber kaum Erfolg versprechend.

Ein Projekt wie der kostenlose ÖPNV darf aber nicht daran scheitern, dass sich der große ökologische und finanzielle Nutzen nicht an jener Stelle ergibt, an der die politischen Weichenstellungen getroffen werden müssen. Es ist gerade Aufgabe der politischen Entscheidungsträger, Strukturen zu schaffen, die eine Umsetzung gesamtgesellschaftlich sinnvoller Ideen fördern. Hier müssen Möglichkeiten gefunden werden, die Kosten für die Einführung des Nulltarifes auf alle umzulegen, die davon profitieren.

Grundsatzentscheidungen nötig
Wir brauchen eine politische Grundsatzentscheidung für den Nulltarif als klare und langfristige Zielvorgabe für die Stadtverwaltung und die städtischen Verkehrsbetriebe. Nur damit wird es möglich sein, das ÖPNV-Netz zu erweitern und effizienter zu machen (z.B. durch mehr Vorrangschaltungen) oder Versuchsprojektgelder zu erhalten. Der Oberbürgermeister kann mit einer positiven „Vision Nulltarif" Sponsorengelder einwerben nicht für Fassaden, sondern für Solarmodule, die direkt dem Strombudget der Straßenbahnen zugerechnet werden oder für Projekte der Herstellung von biologischen Kraftstoffen aus Potsdamer Abfallstoffen, die direkt dem Busverkehr zugerechnet werden.

Schrittweise zum Erfolg
Die Durchsetzung des kostenlosen ÖPNV wird nicht abrupt möglich sein. Vielmehr hält Die Andere eine schrittweise Entwicklung zum Nulltarif für sinnvoll. Das ermöglicht uns, die Folgen des Nulltarifes besser abzuschätzen:

  • Wie stark kann man die Werbeeinnahmen steigern, wenn die Fahrgastzahlen steigen?
  • Welche Mehrinvestitionen sind wirklich nötig?
  • Welche Aufwendungen sinken, wenn man mehr investiert? Welche Einsparungen lassen sich praktisch realisieren, wenn Aufwendungen für den Ticketverkauf wegfallen?
  • In welchem Maße können wir auf Straßenreparaturmaßnahmen verzichten, wenn wir den MIV und den LKW-Durchgangsverkehr verringern?
  • Wie weit kann man dabei sinnvoll Radverkehrsflächen zu Lasten von Straßenverkehrsflächen ausweiten, wenn man gleichzeitig die ÖPNV-Preise senkt?

Durch den schrittweisen Übergang zum kostenlosen ÖPNV kann das Angebot der ViP hinsichtlich Kapazität und Liniennetz dem sich langsam vollziehenden Fahrgastzuwachs bedarfsgerecht angepasst werden. Mit ersten Schritten können Anreize zu einem Nutzerverhalten geschaffen werden, das vorhandene Kapazitäten besser auslastet.


Unsere Schritte zum Nulltarif

Die Andere wird pragmatisch für politische Mehrheiten zur Einführung des Nulltarifes in Potsdam werben. Dazu stellen wir folgende erste Schritte zur Diskussion:

  • Fahrpreis-Moratorium: Das Tarifsystem wird vereinfacht, abgerundet und eingefroren. Wenn wir den Weg zum Nulltarif beschreiten wollen, macht eine Fahrpreiserhöhung keinen Sinn. Ein öffentlich erklärtes Fahrpreismoratorium signalisiert, dass es für den Fahrpreis nur eine Richtung gibt: nach unten.
  • Der Nulltarif wird zuerst zu schwach ausgelasteten Verkehrszeiten eingeführt. Dadurch wird die Auslastung der Fahrzeuge verbessert und ein Anreiz zur Änderung des Nutzungsverhaltens geschaffen.
  • Zukünftige Mehreinnahmen durch Steigerung der Fahrgastzahlen (die es schon wegen der steigenden Spritpreise geben wird) werden ausnahmslos für kapazitätserweiternde Investitionen in den ÖPNV verwandt.
  • Im Rahmen des 2009 neu zu schließenden Verkehrsleistungs- und Finanzierungsvertrages zwischen ViP und Stadtwerke GmbH wird ein stetig steigender, moderater Zuschuss (+ 500.000 Euro pro Jahr) vereinbart. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass die Betriebskostenzuschüsse der Stadt von 14,3 Mio. Euro im Jahr 1998 auf heute 5 Mio. Euro und weniger heruntergefahren wurden. Die Stadt ist also prinzipiell in der Lage, mehr Kosten zu übernehmen als es bisher der Fall ist.
  • Einzelne Nutzergruppen werden aus dem bestehenden Tarifsystem herausgenommen (siehe z.B. Kapitel „kostenloses Schülerticket").
  • Das Land muss die Einführung des Nulltarifes im Rahmen eines Modellprojektes finanziell fördern oder die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung einer kommunalen Nahverkehrsabgabe schaffen.

Wir fangen an: Kostenloses Schülerticket
Wir sehen die Einführung des kostenlosen Schülertickets als einen Schritt zum Nulltarif. Das kostenlose Schülerticket soll nach Art des Semestertickets für Studierende funktionieren:

Studierende der Potsdamer Uni können mit diesem seit Jahren bewährten Ticket für 22 Euro pro Monat jedes Nahverkehrsmittel in ganz Brandenburg und Berlin nutzen. Allerdings sind alle Potsdamer Uni-Studierenden verpflichtet, (soziale Ausnahmefälle sind möglich) das Semesterticket zu erwerben.
Eine Potsdamer Schülerin hingegen bekommt für 26,30 Euro pro Monat lediglich eine Monatskarte des Potsdamer Tarifbereiches A/B. Hier sollte es gelingen, unter Einbringung aller ca. 13 000 Schüler der Stadt, mit dem ViP bzw. mit dem VBB Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg ein speziell auf die Bedürfnisse der Schülerinnen zugeschnittenes Schülerticket auszuhandeln.
Dabei sollte es möglich sein, für Schüler einen weit güns-tigeren Monatspreis als für Studierende zu erzielen, weil eine Reihe Kosten dämpfender Aspekte zu Buche schlagen. So könnte das Schülerticket auf das Potsdamer Tarifgebiet A/B begrenzt sein, einzelne Verkehrsmittel, wie z.B. Züge der Deutschen Bahn, könnten ausgeklammert werden.

Auch der geringere Mobilitätsbedarf einer Grundschülerin gegenüber einem Studierenden und die üblicherweise gegebene größere Nähe der Grundschule zum Wohnort, gilt es zu beachten. Deshalb fordert Die Andere vom ViP bzw. VBB einen Preis um 10 Euro pro Monat und Schüler für ein solches Schülerticket. Die Kosten für alle Schülertickets und somit für den Schüler-Nulltarif trägt die Stadt Potsdam.

Zur Finanzierung dieser zusätzlichen ca. 1,5 Mio. Euro führt Die Andere folgende Deckungsvorschläge an:

  • Streichung der Satzung über die Erstattung von Schülerfahrtkosten - SüESK und der Verwendung der Haushaltstitel für den Schüler-Nulltarif: Die Stadt Potsdam finanziert in Härtefällen bereits jetzt Teile des Schülertickets. Die hier verwendeten Mittel können für das kostenlose Schülerticket genutzt werden.
  • Verwendung der vom Land Brandenburg in Aussicht gestellten Mittel zur Unterstützung des Schülerverkehrs
  • Verwendung der aufgrund gestiegener Fahrgastzahlen an die Stadt zurück fließenden Mittel der ViP (1,1 Millionen Euro)

Mit diesem Modell hat Die Andere auch die Mehrheit der Stadtverordneten überzeugt. Mitte 2008 beauftragte die Stadtverordnetenversammlung den Oberbürgermeister, unser Modell für das kostenlose Schülerticket zu prüfen. Der Geschäftsführer der ViP erklärte in einem Zeitungsinterview, dass der städtische Verkehrsbetrieb die Voraussetzungen schaffen wird, wenn die Stadtverordneten dies wünschen.


Auf zum Nulltarif!

Wir haben gezeigt, dass der Nulltarif für Busse und Bahnen einen größeren Nutzen hat, als er Kosten verursacht. Bisher wurden solche Berechnungen tunlichst vermieden. Zwar sprechen auch andere Fraktionen in den Wahlkampfzeiten vom Nulltarif - praktische Vorschläge sind sie bislang aber schuldig geblieben. Die Andere hat hingegen nachgerechnet und mit den „Schritten zum Nulltarif" einen praktikablen Weg aufgezeigt.

Unsere Antwort ist ganz einfach:
Der kostenlose ÖPNV ist finanzierbar, wenn seine Kosten auf mehrere Schultern verteilt werden. Komischerweise kommen die Verantwortlichen der großen Parteien in Stadt und Land auf diese Idee nur bei so fragwürdigen Projekten wie dem Wiederaufbau des Stadtschlosses. Allein wäre die Stadt Potsdam mit dieser Aufgabe überfordert gewesen, aber durch eine Kombination von Mitteln der Kommune, des Landes und der Europäischen Union wird dieses Projekt umgesetzt. Die Andere vertritt die Meinung, dass die Prioritäten damit völlig falsch gesetzt worden sind. Denn mit den 150 Mio. Euro Kosten für das Stadtschloss und den noch anstehenden Millionen für die Garnisonkirche könnte der Nulltarif auf dem Niveau des jetzigen Fahrgastaufkommens für 20 bis 25 Jahre abgesichert werden. Dies zeigt: Der Nulltarif ist machbar, wenn ein entsprechender politischer Wille vorhanden ist. Wer von einer „Nichtfinanzierbarkeit" redet, will den kostenlosen ÖPNV in Potsdam nur nicht.

 


Nulltarif-Vorreiter in Belgien

Hasselt ist die Hauptstadt der belgischen Provinz Limburg. Hier leben etwas mehr als 70 000 Menschen. In den 90er Jahren schien es durch den zunehmenden Autoverkehr unausweichlich, dass die Stadt in weitere umweltzerstörende Straßenbauprojekte investieren muss. Doch der populäre Bürgermeister wählte einen anderen Weg. Er richtete einen kostenlosen Busverkehr für Hasselt und Umgebung ein und warb in der Bevölkerung für einen Umstieg vom Auto zum ÖPNV. Die Idee wurde ein Volltreffer. Von täglich durchschnittlich 1 000 (1996) stieg die Zahl der täglichen Fahrgäste auf 12 600 (2006). Der geplante vierspurige Stadtring wurde zu einer grünen Flaniermeile. Der Bürgermeister, der den Anstoß für den Umsonstnahverkehr gab, ist nun Verkehrsminister. Der Bekanntheitsgrad der Stadt wuchs beträchtlich. Und das innerstädtische Leben, gerade zu Stoßzeiten, ist nach Angaben von Anwohnerinnen viel entspannter geworden.

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