Freiräume und Angebote für Jugendliche - Ideen für eine attraktivere Jugendsozialarbeit

Statt mehr Repression: städtische Potenziale der Jugend­sozialarbeit nutzen

In Potsdam betrug im Jahr 2007 (MAZ 22. Mai 08) der Anteil Jugendlicher an der Gesamtzahl der Straftatverdächtigen laut polizeilicher Quelle 26,7 %, die Gruppe der 14 bis 21 Jährigen stellt gerade 12 % der Gesamtbevölkerung Potsdams dar. Bei Delikten der Gewaltkriminalität waren gar 158 der 436 Tatverdächtigen Jugendliche. Polizei und Innenpolitiker nehmen diese Entwicklungen auf der einen Seite zum Anlass, Grundrechte abzubauen, Daten zu speichern und härtere Strafen zu fordern.

Auf der anderen Seite sind praktische Konsequenzen für die Jugendsozialarbeit in Potsdam bislang weitgehend ausgeblieben. Nicht einmal das ansonsten als Allheilmittel geltende Öffnen zusätzlicher Jugendklubs und die Schaffung neuer Sozialarbeiterstellen erfolgten in Potsdam. Ganz im Gegenteil, in den vergangenen Jahren fielen eine Reihe von Treffpunkten und Angeboten für Jugendliche gerade in der Innenstadt mehr oder weniger ersatzlos der „Stadtentwicklung" zum Opfer.

Die Andere weiß, wie wenig Aussagekraft polizeiliche Kriminalstatistiken haben. Sie erfassen nur Tatverdächtige und basieren auf der Einschätzung von Polizistinnen; sie entspringen folglich eine sehr spezifischen Perspektive. Schon deshalb sind sie für uns weitgehend unbrauchbar. Wir stützen unsere Einschätzungen eher auf Erfahrungen von Jugendlichen und von alternativen Jugendeinrichtungen.

Wir sind der Auffassung, dass sich in den vergangenen Jahren vor allem die Qualität der Jugendgewalt verändert hat. Die Ursachen sind vielfältig. Immer mehr Jugendliche sehen keine zufriedenstellende persönliche Perspektive mehr. Jugendcliquen sind deutlich männlich geprägt. Rechtsextreme Welterklärungsmuster, die Sündenbock- und Liquidierungsdiskurse enthalten, sind unter Jugendlichen verbreitet. Die soziale Entmischung der Wohngebiete und im gleichen Zuge die Konzentration von sozio-ökonomischen Problemlagen schreiten in Potsdam rapide voran.

Uns ist klar, dass eine Kommune auf die gesamtgesellschaftlichen und international zu beobachtenden Entwicklungen im Bereich der Jugendkultur nur sehr begrenzt Einfluss nehmen kann. Gleichwohl sehen wir kommunale Verantwortungs- und Handlungsbereiche. Neben dem Bereich der Stadtentwicklung liegen diese Möglichkeiten vor allem im Bereich der Jugendhilfe.

Wir haben auf die problematische Entwicklung früh aufmerksam gemacht, um gerade die pädagogischen Fachkräfte aus ihrer häufig politikresistenten Haltung herauszulocken. Statt der polizeilichen Kriminalstatistik müssen die in der Jugendhilfe Tätigen mit ihrem Insiderwissen die Debatten um Jugendkulturen, um Jugendgewalt, um Delinquenz von Kindern und Jugendlichen führen und prägen. Statt polizeilicher Repression Vorschub zu leisten, fordern wir pädagogische Konzepte ein, die gefährdete Kinder und Jugendliche möglichst früh und effektiv vor den o.g. gesellschaftlichen Entwicklungen schützen.


Der Effekt der kommunalen Verleugnung von Jugendgewalt

Bereits im August 2006 stellte die Fraktion Die Andere einen Antrag in der Stadtverordnetenversammlung, um auf die immer brutalere Gewalt unter Jugendlichen mit speziellen sozialpädagogischen Angeboten zu reagieren (MAZ 07. August 06). Die Stadtverordneten beschlossen daraufhin, bis November 06 eine Konzeption zur gewaltpräventiven Arbeit mit Jugendcliquen vorzulegen.

Die damit beauftragte Verwaltung (Jugendamt) bemühte sich eilig um eine Aufstellung aller sozialpädagogischen Angebote in Potsdam (MAZ 01. September 06) und urteilte angesichts von deren Vielzahl in einer Mitteilung an die Stadtverordneten, dass es „zur Zeit keinen zwingenden Bedarf gebe" (MAZ 06. November 06).

Letztlich verständigte man sich aber auf eine zum Thema Jugendgewalt ausgerichtete Fachtagung (PNN 25. November 06), die schließlich am 30. Januar 07 - gemeinsam vom Diakonischen Werk Potsdam und dem Verein Jugendrechtshaus Berlin organisiert - stattfand.

Hier erwies sich die Ausblendung soziologischer und gesellschaftspolitischer Sichtweisen zugunsten eines psychiatrischen Zugangs zum Phänomen Gewalt im Hinblick auf eine fruchtbare Diskussion als fatal, für die Legitimierung der von der Verwaltung vertretenen Auffassung der hinreichenden sozialpädagogischen Angebote war sie aber durchaus zweckdienlich. Dass Gewalt „heilbar" sei, individualisiert das Problem unzulässigerweise und legt individuelle psychiatrische oder psychotherapeutische Lösungen nahe. So als ließen sich das Problem von Jugendgewalt und andere gesellschaftliche Probleme auf der Psycho-Couch lösen.

In erster Linie verschleiert es den Blick auf die Verantwortung aller gesellschaftlichen Akteure für die Entstehung und Auswüchse von Jugendgewalt. Es verkennt vor allem, dass Jugendgewalt eben nicht ein individuelles Leiden ist, welches das neurotische Individuum zur Therapie zwingt, sondern dass diese auch Ergebnis und Ausdruck eines Leidens an der Gesellschaft ist. Letzteres bedeutet, dass gesellschaftliche Verhältnisse Jugendgewalt auch selber hervorbringen und zu reproduzieren vermögen.

Problemaufriss
Die Fälle Ermyas M. oder David F. im Jahre 2006 sensibilisierten nicht zuletzt aufgrund der nachhaltigen Berichterstattungen der Medien die Öffentlichkeit in Potsdam für das Thema Jugendgewalt. In diese Zeit fielen ebenso die spektakulären Gerichtsprozesse gegen Jugendliche aus der rechten und linken Szene, die mit langjährigen Haftstrafen für Vertreter der Anti-Antifa Potsdam endeten.

Interessanterweise führten diese Vorgänge aber nicht zu einer politischen Auswertung bzw. Neubewertung der Einschätzung von Jugendgewalt, sondern zu einer Selbstvergewisserung der Stadt, bisher alles richtig gemacht zu haben.

Eine eingehende statistische Erhebung zur Jugendgewalt würde mit großer Wahrscheinlichkeit ergeben, dass sie sich regelmäßig um sog. Events (Diskotheken, Fußballveranstaltungen, Konzerte) und auf öffentlichen Plätzen (die von Jugendlichen symbolisch annektiert werden) in den Nacht- und Morgenzeiten vornehmlich am Wochenende organisiert.

Erschwerend wirken sich die Jugendschutzbestimmungen auf das Freizeitverhalten Jugendlicher aus. Insbesondere die veraltete Regelung, dass Minderjährige nach Mitternacht Clubs und Diskotheken verlassen müssen, stellt in Verbindung mit dem Rauchverbot in öffentlichen Räumen ein Problem dar. Dirk Harder (Stadtjugendring) verweist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf, „dass man für die Einlasskontrollen mehr Sicherheitskräfte benötige. Da Jugendliche im Umfeld von Diskotheken häufig Alkoholverstecke anlegen, ist zu befürchten, dass der Griff zur Zigarette mit dem zur Schnapsflasche verbunden wird" (MAZ 12. November 07). In der Konsequenz bedeutet dies aber auch, dass sich jugendliche Cliquen verstärkt in private Räume oder auf öffentliche Plätze zurückziehen werden. Die Diskussionen um das verstärkte Auftreten von Jugendgruppen im und um das Potsdam-Center belegen diese Entwicklungstendenzen (PNN 06. Juni 08 sowie folgende Tage).

Schon jetzt werden Jugendclubs von gerade 8 % der Jugendlichen genutzt. (Angaben nach N. Schweers, Leiter des Jugendamtes Potsdam). Die übergroße Mehrzahl der Jugendlichen ist durch die bestehenden sozialpädagogischen Angebote nicht erreichbar.

Wir behaupten eine qualitative Veränderung der Gewaltanwendung im Konfliktfall. Streitigkeiten werden unter Jugendlichen vermehrt unter Zuhilfenahme von Messern, Bierflaschen, Stöcken oder Schlagringen ausgetragen. Dabei werden der eigene und der Tod des anderen immer häufiger billigend in Kauf genommen. Es gibt immer mehr Jugendgruppen, die nachts nur noch kurzfristig auf Bahnhöfen oder in der Tram auftauchen; hierbei werden Konfliktsituationen z.T. bewusst als Legitimation zur Gewaltanwendung initiiert.

Auch in Potsdam bilden sich immer stärker Cliquen mit männlichkeitsdominierten Verhaltensmustern heraus. Diese Gruppen verfügen über ein starkes Einschüchterungs- und Aggressions- aber auch über ein enormes Faszinations- und Identifikationspotenzial für Jugendliche. Während selbst im repressiven Bereich (Strafvollzug und Polizei) seit längerem strukturelle Maßnahmen getroffen wurden, die ein effektiveres täterbezogenes Handeln ermöglichen sollen, existiert in Rahmen der Jugendsozialarbeit kein spezielles Angebot für die intensive Betreuung dieser besonders gefährdeten Jugendlichen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, da im Rahmen der normalen Streetwork eine hinreichend intensive Arbeit mit Jugendcliquen nicht geleistet werden kann.


Städtische Angebote der Jugend­arbeit

Auf die zunehmende Jugendgewalt reagiert die Stadt Potsdam sowohl mit polizeilicher als auch mit sozialpädagogischer Prävention.

Der Bereich der Jugendsozialarbeit in Potsdam gründet sich auf drei klassische Säulen:

  • Jugendklubarbeit (in den Wohngebieten Stern, Schlaatz, Waldstadt etc.)
  • Straßensozialarbeit (Streetwork, Fanprojekt)
  • Beratung (Opferberatung, Drogenberatung etc.)

In allen drei Bereichen muss die Stadt Potsdam ihre Möglichkeiten voll ausschöpfen. Dazu fordern wir:

Zusätzliche Jugendeinrichtungen:

  • umgehende Schaffung einer Jugendeinrichtung als umfassenden Ersatz für S13 im Innenstadtbereich
  • Schaffung eines Jugendklubangebotes für nichtrechte Jugendliche in den nördlichen Ortsteilen
  • Unterstützung selbstverwalteter Jugendkultureinrichtungen wie z.B. Archiv

Maßnahmen zur Aufwertung der Jugendklubs:

  • zusätzliche gemeinsame Abendbrotangebote in den städtischen Jugendklubs
  • Wiedereinführung von Jugendklubdiskotheken an den Wochenenden
  • Einrichtung von Raucherräumen in den Jugendklubs

Straßensozialarbeit:

  • zeitliche Ausdehnung der Straßensozialarbeit an relevanten öffentlichen Plätzen auch an den Wochenenden und in den Nachtzeiten
  • Verstärkung der Straßensozialarbeit im Umfeld kommerzieller Events
  • Schaffung eines Modellprojektes für die aufsuchende Straßensozialarbeit mit gewaltbereiten Jugendcliquen als Ergänzung zu den bestehenden Angeboten

Beratung:

  • personelle Aufstockung der Suchtberatung und Suchtprävention
  • Konkrete Hilfs- und Beratungsangebote durch Sozialarbeiter bei allen Wohnungsräumungen
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